Bünde im Nationalsozialismus
Ein Quellenverzeichnis präsentiert vom Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Bünde


Interview mit Frau Luise Wilke, Bünde, am 18.10.1986


Interviewer: Jürgen Bolz, Bünde

Luise Wilke, geb. im Jahre 1898, hat von April 1914 bis November 1923 als Hausangestellte bei der jüdischen Familie Levison in der Hindenburgstraße gearbeitet. Frau Wilke berichtet in dem Interview über das Leben in der jüdischen Fabrikantenfamilie und über ihre weiteren Kontakte zur Familie Levison nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, u.a. auch über die Ereignisse in der "Reichskristallnacht".

I.: "Wann kamen Sie zu Levisons?"

Frau W.: "Ich kam am 1. April 1914 zu Levisons, ich war gerade im März 16 Jahre alt geworden. Ich war vorher in Minden schon zwei Jahre bei einem großen Fabrikanten mit Kindern gewesen. Die Levisons hatten vor mir zwei Mädchen im Alter von 25 Jahren gehabt, und die wollten nach Bielefeld, die wollten sich mal verändern. Mein Onkel wohnte in Bünde. Und da kam er nach Minden und sagte: 'Ich habe jetzt eine ganz feine Stelle für dich.' Ich habe gutes Geld bei Levisons gekriegt. Wie ich mich vorstellte, sagte Frau Levison zu Herrn Levison: 'Ach Karl, ja, ich nähme sie ja gerne, aber ich habe Angst, sie ist noch so jung, so zart, ob sie überhaupt die Arbeit aushält?' Ich wurde ja Zweitmädchen, das erste Mädchen war für die Küche. 'Mutter, nimm sie man!', sagte Herr Levison. Und 'Mutter' nahm mich auch.
Und da kam ja gleich der Krieg im Jahre 1914, und da wurde das Lazarett gegründet. Da haben wir dann, die Putzfrau und ich, in einem großen Waschkorb immer Betten und Bettwäsche hingeschleppt, wie das Lazarett gegründet wurde. Levisons hatten oben auf dem Flur, das war fast Boden, einen ganz großen Schrank, so einen Eichenschrank, die hatten ja vorher das Geschäft gehabt, die Eltern von Herrn Levison. Und da hatten sie nun noch Wäsche drin... . Das war ein Textilgeschäft, das ist direkt dort gewesen, wo heute Woolworth ist. Das Haus am Marktplatz haben Levisons von jemandem gekauft, das muß so kurz vor 1900 gewesen sein. Da haben sie das alte, elterliche Haus an der Bahnhofstraße verkauft an einen Wohlgemut. Und daneben war doch das ganz alte Bünder Kino. Das war früher ja das Lagerhaus von Levisons."

I.: "Wie war denn Ihr Kontakt zu Levisons? Hatten Sie so eine Art Familienanschluß?"

Frau W.: "Ich hatte direkt Familienanschluß. Abends handarbeitete ich gern, ich hatte natürlich auch Freundinnen, ich konnte gehen, tun und lassen, was ich wollte, die kamen zu mir, ich ging zu ihnen. Und wenn ich nicht ging, dann saß ich abends mit im Zimmer. Herr Levison las aus Wilhelm Busch vor. Er las alle diese ulkigen Sachen. Dann hatte er 'Henriette Jacoby' und 'Jettchen Gebert' . Das waren Bücher von Juden. Auch was Ulkiges. Ja, und von Christian Morgenstern. Ich hatte direkt Familienanschluß. Ich weiß, ich war schon verheiratet und war krank, und Herr und Frau Levison kamen an einem Sonntagnachmittag und besuchten mich, und wir hatten Besuch. Da sagte Herr Levison zu dem Besuch, ich wär' ja noch ein Kind gewesen, wie ich zu ihnen gekommen wär', darum hinge das ja immer so an."

I.: "Was ist denn der Unterschied zwischen dem Leben in einer jüdischen Familie und einer christlichen Familie?"

Frau W.: "Gar nichts, sie hatten zwei Söhne, Alfred, der war ja mit im Geschäft, und Paul war Student, den habe ich kaum zuhause gesehen, der war in Würzburg zu der Zeit, in Bückeburg war er, und ich weiß nicht wo, an mehreren Stellen hat der studiert, der war nachher in Hamburg Chefarzt am Kinderkrankenhaus. Wie mein Sohn geboren war, da hat er mich besucht, mit Frau Levison und Ännchen zusammen, die drei kamen. Und da brachte er mir so ein dickes Buch für Kindererziehung mit, wie man schon von Säugling an turnen sollte und so. Und Paul Levison ist ja noch mit dem letzten Schiff aus Deutschland herausgekommen... ."

I.: "Aber nochmal zu dem Unterschied zwischen einer christlichen und jüdischen Familie. Gab es da vielleicht besondere Tischsitten oder ..."

Frau W.: "Nein. Gar nichts. Ich war Zimmermädchen. Ich mußte mittags servieren, und alles auf's Allerfeinste. Die Gesellschaften waren immer auf's Allerfeinste. Das ging alles durcheinander, ich meine, das mit christlichen und jüdischen Gästen. Und die Freundinnen von Ännchen waren Anna Knoll, Tilla Warmann, das waren alles Schülerinnen vom Gymnasium. Grete Erbschlöh und Hans Walter Rehling, der war damals auch in dem Alter, das war immer so ein Club, den sie hatten, die vier. Levisons hatten sehr viel Besuch und Frau Daltrop sagte mir auch jetzt noch, das wär ja immer sehr schön bei Levisons gewesen. Ja, sie waren sparsam, fuhren kein Auto, also hatten keinen Wagen mit Pferde, gingen immer schön zu Fuß zum Bahnhof. Sie waren sehr vermögend. Denn Herr Levison war Vorsitzender von der Sparkasse. Und mein Geld nahm er immer mit zur Sparkasse, dann brauchte ich gar nicht hin.

Das zahlte er ein. Er hat oft gesagt: 'Ach, Luise, Sie sollten sich ruhig etwas vom Leben nehmen.' Und ich hatte ja auch meine Ferien, aber meine Ferien habe ich immer - ich bin aus Frotheim im Kreise Lübbecke - bei meinen Eltern verlebt, dann kriegte ich mein Feriengeld mit, und dann habe ich immer feste auf'm Lande geholfen. Ich arbeitete so gerne draußen. Bei Levisons brauchte ich das ja nicht. Der Garten wurde vom Gärtner gemacht. Die hatten eine Waschfrau und eine Büglerin, die alles wieder wegbügelte. Meine Sachen, alles, was ich so trug, das wurde von Fräulein E(.) genäht. Die kam denn ins Haus."

I.: "Wie lange waren Sie im Hause Levison?"

Frau W.: "Ich war da von April '14 bis Ende '23, da habe ich geheiratet, in November '23. Knapp 10 Jahre war ich da. Ich gehörte ja auch richtig mit zur Familie. Frau Levison hat geweint, wie ich wegging, aber richtig geweint. Da haben wir beiden erst geheult. Ja, sie kam auch immer und besuchte mich, nach 4 Jahren wurde mein Sohn geboren, da hat sie 4 Wochen für mich gekocht. Sie hatte immer Angst, daß ich nicht ordentlich was zu essen kriegte, und dann wurde mir das Essen ins Haus geschickt. Mein Mann war Zigarrensortierer bei Bastert. Und der hatte seine Mutter so früh verloren. Nun lebten mein Schwiegervater noch hier im Hause, meine Schwägerin und mein Schwager. Die älteste Schwägerin meines Mannes war verheiratet, mein jüngste Schwägerin war fünf oder sechs Jahre jünger als ich, die war ja nun hier im Hause. Und ich war ja dieses Leben nicht gewohnt, und da haben wir geheiratet, und ich konnte mich überhaupt nicht gewöhnen an das Haus. Nein, und da kam Frau Levison einmal morgens, und ich hatte geheult. Alle waren sie weg zur Arbeit, alle arbeiteten bei Andr-. Mein Schwiegervater, mein Mann und meine Schwägerin, und mein Schwager arbeiteten woanders, der war aber nicht immer zuhause, und ich hatte geheult. Da kam Frau Levison. 'Ach, Luise, warum haben Sie denn geweint?' 'Ich bleibe nicht hier im Haus, ich halte es hier nicht mehr aus.' 'Kommen Sie zu uns, ab und zu.' Ja, mittags, wenn ich Essen gekocht hatte, ging ich zu Andr- mit drei Döppen und brachte jeden Mittag Essen nach Andr-. Ja, und da habe ich das dann so eingerichtet, da bin ich dann jeden Tag zu Levisons gegangen. Dadurch hat sich das dann alles 'n bißchen ..., ich hatte richtig Heimweh nach da, nicht? Und das war ja auch ein ganz anderes Leben für mich gewesen. Mittags nach dem Aufspülen war ich fertig, schön angezogen, Einkäufe gemacht, abends entweder Freundinnen eingeladen oder zu Freundinnen gegangen, nicht? Und wenn bei Levisons Gesellschaften waren, und ich ging abends spät, dann habe ich zu meinem Mann gesagt: 'Du brauchst Dich nicht zu wundern, wenn ich heute nicht heimkomme, daß ich über Nacht dableibe.' Dann bin ich nachts dageblieben. War auch mal wieder schön, in meinem alten Bett zu schlafen, wo ich immer ... . Da standen nämlich zwei Betten auf dem Zimmer, weil sie ja immer zwei Mädchen gehabt hatten. Ja, es war mein zweites Zuhause, nicht."

I.: "Haben Sie das also auch mitbekommen, so die 'Reichskristallnacht', wie so Anfeindungen kamen, wie antijüdische Stimmung aufkam in der Zeit?"

Frau W.: "Ja, das war schlimm, wie das kam. Ich weiß, daß Frau Levison einmal zu mir sagte: 'Luise, grüßen Sie mich nicht mehr auf der Straße, wenn Sie mich sehen. Es könnte für Sie sehr schlimm ausfallen.' Das war, als der Krieg anfing, bereits nach der 'Kristallnacht'. Am Tag der 'Kristallnacht' wurde mein Vater beerdigt, und da sind wir von Frotheim gekommen, mit meinem Mann und Wilfried, und da wurde auf dem Marktplatz alles aufgebrannt. Da kam hier von gegenüber die Frau, die sortierte auch bei Bastert, die kam und sagte: 'Bei Levisons schlagen sie alles kaputt.' 'Ach,' hab ich da gesagt, 'dann muß ich sofort hin!' Da sagte mein Mann: 'Nein, da gehst du nicht hin, jetzt. Die sind vielleicht noch da von der SA.' 'Nein,' sagte ich, 'ich gehe hin.' Und da sind er und mein Sohn - der war noch klein, ist '27 geboren -, noch mitgegangen, aber nicht mit herein. Ich bin gleich durch das große Tor gegangen, ins Haus. Wie ich hereinkam, Herr Levison und Frau Levison saßen auf der Treppe. Alles kaputtgeschlagen! Die Küchenschränke hatten sie so genommen, in der Küche, im Flur, der große Stehspiegel, da hatten sie reingeschlagen, die hatten ja alle kostbaren Sachen aufgeschlitzt, Betten auch ... Nein! Nein! Sowas, die beiden ... . 'Luise!' sagte Herr Levison, 'wie können Sie bloß, also ...' 'Ja', ich sagte, 'was wollen die mir denn? Ich darf doch hier reinkommen!' Und ... da bin ich dann länger geblieben. Ich bin nochmal herausgegangen, habe zu meinem Mann gesagt, sie sollten mal nach Hause gehen, ich bliebe noch ein bißchen. Ännchen, die Tochter von Levisons, war in Herford verheiratet, da bin ich zweimal bei ihr gewesen, habe sie besucht. Ännchen war zwei Jahre jünger als ich. Da waren Levisons noch hier, da waren Ännchen und ihr Mann schon abtransportiert, nach Polen, da schickten Levisons immer so kleine Päckchen hin. Ännchen hatte eine Tochter, Thekla Marianne hieß sie. Und die hatten sie nach Schweden zu ganz einfachen Leuten gegeben, dafür kriegten die natürlich Geld. Und Ännchen und ihr Mann, die waren schon in Polen, im Konzentrationslager, und Levisons schickten immer so kleine Päckchen hin, damit sie nicht verhungerten, die waren aber, als der Krieg ausbrach, schon umgebracht. Jedes Mal, wenn ich zu Frau Levison kam, dann las sie mir erst vor, dann hatte die Kleine geschrieben, von kleinen Ziegenlämmchen und was sie da hatte. Das war, als der Krieg anfing. Thekla ist bis Kriegsende in Schweden geblieben. Da hat der Jüngste, Paul Levison, der Arzt, sie geholt und hat sie mit nach Amerika genommen. Paul Levison war in Hamburg schon verheiratet, der hatte eine evangelische Schwester aus dem Krankenhaus, wo er arbeitete, geheiratet. War wohl ein ganz hübsches blondes Mädchen gewesen. Und Frau Levison erzählte mir dann immer, sie hieß auch Luise, daß sie dagewesen seien und Luise immer so elegant gewesen sei. Die sind dann aber nach ein paar Jahren geschieden worden ..."

I.: "Haben Sie bereits vor 1938 bemerkt, daß sich eine antijüdische Stimmung breit machte?"

Frau W.: "Ja, da war ich schon verheiratet; ich weiß, wenn Levisons mal kamen, und Wilfried spielte mit den Kindern auf dem Wege, hat er sich dann immer versteckt. Ja, die Kinder wußten ja, daß es Juden waren. Die haben dann immer gesagt: 'Die Juden gehen wieder zu euch.' Wilfried ist 1927 geboren, er muß da ja schon ungefähr in der Schule gewesen sein, sonst hätte er ja noch nicht den Verstand gehabt.
Zuletzt kam Frau Levison auch gar nicht mehr, also, sie wollte nicht, daß ich dadurch Schwierigkeiten bekam. ... Im Kriege konnten Levisons nicht mehr alles kriegen. Wenn ich irgendwas Schönes hatte, brachte ich es hin. Mein Mann ist in Rußland geblieben, im März 1942 ist mein Mann in Rußland ... . Frau Levison schrieb mir, die Zeitung kriegten sie ja auch nicht mehr, Alfred hätte bei Ziegemeyer (Anm. d. Hg.: Z. war Herausgeber des "Bünder Tageblattes") gesehen, daß mein Mann gefallen sei. Und es täte ihr ja so weh, so leid, weil es ein so guter Mensch gewesen sei. In dieser Zeit schrieb sie immer. Da kam sie nicht, dann schrieb sie mir immer."

I.: "Sie schrieb Ihnen von Bünde aus?"

Frau W.: "Oh, nein, sie hatte manchmal Leute, die hier was abgaben. An einem Abend hatte ich Levisons etwas gebracht an Eßbarem, wir schlachteten zu der Zeit noch, und wenn ich dann vom Schlachten etwas hatte, habe ich das hingebracht. Und reingekommen bin ich, ohne daß mich jemand gesehen hat, aber da bin ich hinten über die Terrasse hinauf, am Gericht, an dieser Mauer vom Gericht, über die Hecke gesprungen, über den Marktplatz gelaufen und weg. Und da hat mich jemand gesehen, gleich bei Levisons angeschellt, also, wer das gewesen wär, es wär eben jemand, den sie nicht mehr hätten kriegen können, weggelaufen. Da war ich noch fix, laufen konnte ich. Ich war dann im Galopp über den Marktplatz weg, es war dunkel, es war schon spät, und da hatte die SA angeschellt, wer da gewesen wär. 'Ja', hat Frau Levison gesagt, 'das war unsere Luise, die ist hier 10 Jahre gewesen, und die besucht uns auch noch ab und zu. Und ich möchte nicht, daß da irgendetwas draus wird.' Ach, einen Tag später kam Polizist N(.) hier an und wollte mir Bescheid sagen, daß ich gesehen worden wäre. Ich war auch nicht bange, ich hatte meinen Mann verloren, ich dachte: 'Was kann dir noch passieren?' Wie sie weggekommen sind, nachher, das habe ich nicht gesehen, das habe ich nur gehört, auch hier von gegenüber, die Frau hat es gesehen, wie sie alle da herausgekommen sind. Und zuletzt waren ja auch schon alle zusamengetrieben, bei Levisons im Hause, auch die Spaniers vom Goetheplatz, sehen Sie, da verkehrten Levisons ja gar nicht mit, früher. Die verkehrten ja nur mit den drei Rosenwalds, mit Blumenaus, mit Hoffbauers, so mit diesen Bessergestellten, mit den Fabrikanten, mit den einfachen Geschäftsleuten, da verkehrten die ja gar nicht mit. Levisons hatten auch christliche Bekannte, wo sie mit verkehrten. Warmanns und Levisons hatten doch zusammen die Fabrik, ich meine, Herr Levison hatte doch sein ganzes Geld in das Geschäft gesteckt. Herr Warmann war nur Prokurist gewesen, der hatte die Kenntnisse, Herr Levison hatte doch nicht die Kenntnisse vom Zigarrengeschäft."

I.: "Haben sich Levisons noch weiter am Gemeindeleben beteiligt, waren sie in irgendwelchen Vereinen?"

Frau W.: "Herr Levison ist Schützenkönig gewesen, und Frau Levison war mal Schützenkönigin mit Herrn Arnolds. Ich glaube, Herr Levison ist schon vor 1900 Schützenkönig gewesen. Frau Levison war ja eine sehr hübsche Frau, auch die Schwestern, sehr hübsch, alle."

I.: "Sind sie auch in der Synagogengemeinde tätig gewesen? Wissen Sie etwas davon?"

Frau W.: "Ja, die gingen nicht viel zur Synagoge, nein, nur als die beiden Söhne im Krieg waren. Im Herbst ist ja Laubhüttenfest, dann fasten die Juden einige Tage, nur Ännchen und ich haben dann gegessen, da sind Levisons auch mal zur Synagoge gegangen, da haben sie nichts gegessen, da sagte ich, ja, ich verstände gar nicht, warum sie jetzt nicht äßen. 'Ja', sagte Herr Levison, 'ach, Luise, wissen Sie, jetzt sind die beiden Jungens im Kriege, und man hat ja Angst, passiert mal was, dann denkt man ..., dann wird man fromm.'
Herr Levison hatte immer im Mai Geburtstag, und Ännchen und ich kränzten dann abends vorher, dann suchten wir Blumen, sie hatten ja den schönen Garten, der ging ja bis zur neuen Kirche. Und der war ja mit schönen großen Bäumen ... und Blumen hatten wir auch genug, Veilchen, dann wurde ein Kranz gebunden, um den Stuhl, abends vorher machten wir das. Und Herr Levison wurde 60. Morgens, wie er herunter kam, ich hatte den Tisch schon gedeckt, der Stuhl war gekränzt. Ich gratulierte ihm. 'Ach', sagte er, 'Luise, kondolieren Sie lieber.' Ich sollte lieber kondolieren. 'Ich möchte auch noch mal 18 sein wie Sie.' Da war ich 18 Jahre alt.
Herr Levison war kein hübscher Mensch, aber er war ein netter Mensch. Herr Levison hatte so ein bißchen eine dichterische Ader, er konnte gut dichten.
Im Salon hatten Levisons so ein großes Bild, fast so groß wie die Wand, also ein wunderschönes Bild mit einem Goldrahmen ringsherum, und da sahen Sie hier so ein Feld und dann eine große Hecke, eine Durchfahrt, und hinten wurde Korn aufgeladen. Und vor dem Bild stand der große Flügel, als sie noch so richtig gut lebten, wie ich da hinkam, da hatten Frau Levison und Ännchen immer Klavierstunde, da kam Fräulein Eggersmann immer, die Klavierlehrerin. Dann spielten sie immer vierhändig. Ob das Bild, ob sie das in der 'Reichskristallnacht' auch zerschnitten hatten, ich weiß es gar nicht mehr. Die hatten ja furchtbar da gehaust. Und dann hatten sie so einen großen Teewagen, wunderschön groß, so in oval, da stand dieses besondere Silber drin. Und da stand ein Silberbäumchen, da standen die Namen 'Alfred, Paul und Ännchen' darauf. Hinterher war alles weg. Geplündert! Levisons haben nicht übermäßig gelebt, sie haben alles ein bißchen zusammengehalten. Ich denke immer, wie gut haben die es gehabt, und wie haben sie enden müssen!"



Interview mit Frau Lotte Daltrop, Bielefeld, am 18.12.1986


Interviewer: Jürgen Bolz, Bünde

Lotte Daltrop, geb. im Jahre 1900, ist eine in Bielefeld lebende Verwandte der beiden Bünder Familien Levison und Blumenau. Frau Daltrop berichtet über ihre Verwandtenbesuche in Bünde in den 1930er Jahren. Frau Daltrop wurde auch in das KZ Theresienstadt deportiert und traf hier einige ebenfalls nach Theresienstadt verschleppte Bünder Juden wieder.

Frau D.: "Meine Mutter hatte eine Schwester in Bünde verheiratet an Herrn Carl Levison, und mein Vater hatte eine Schwester in Bünde verheiratet an einen Gustav Blumenau. Beide Familien waren Zigarrenfabrikanten. Herr Levison, mein Onkel, war Teilhaber an einer Zigarrenfabrik, die hieß Warmann & Co.
Die Familie Levison hatte drei Kinder. Der älteste war Alfred, dann kam Paul, und dann kam Ännchen. Die Levisons waren eine alte Bünder Familie. Der Vater von Herrn Levison hatte ein sehr großes Kaufhaus, ich glaube, es war ein Textilhaus, in der Nähe der Bahnhofstraße. Das Haus ist aber inzwischen abgerissen. Ich war immer nur zu Besuch da, weil ich von Vaters und Mutters Seiten her da die Verwandten hatte. Blumenaus, also die Schwester meines Vaters, hatten drei Söhne, der jüngste lebte in Bünde noch bis zu dem Vernichtungsfeldzug der Nazis, nachdem er die Fabrik seines Vaters aufgeben mußte, denn die Fabrik hieß Krüger & Blumenau, der Krüger war der Teilhaber. Und als dann die Nazizeit kam, durfte mein Vetter die Fabriketage überhaupt nicht mehr betreten. Die Krügers, besonders der jüngere Bruder, haben sich sehr häßlich und sehr grob gegenüber meinem Vetter benommen.
Meine Tante durfte auch nicht mehr in das Haus. Ich weiß nur, daß mein Vetter einmal nach Bielefeld kam, wir wohnten damals noch in der Humboldstraße. Und er war furchtbar aufgeregt und war dem Weinen nahe, und wenn ein Mann schon weint ... Aber mein Mann, der Rechtsanwalt war, konnte ihm ja auch nicht raten, denn es war ja anscheinend ein Gesetz geworden, und die Juden sollten ja aus allen Stellungen und Häusern heraus. Bei Levisons und Warmanns war's anders. Herr Warmann war ein sehr gütiger Kompagnon, und die Familien kamen trotz allem immer noch zusammen, zwar nicht mehr so häufig, denn mein Onkel konnte ja auch nicht mehr, durfte ja auch nicht mehr die Fabrik betreten. In den früheren Zeiten, vor der Nazizeit, waren die Levisons sehr angesehen, und mein Onkel war ein sehr vermögender Mann, ein tüchtiger Mann, so daß er der Stadt Bünde eine Röntgeneinrichtung für das Krankenhaus stiften konnte. Der älteste Sohn arbeitete auch mit in der Fabrik, als es noch möglich war, und der zweite Sohn war Kinderarzt in Altona. Und die Tochter heiratete nach Herford, einen Herrn Schiff, der hatte auch eine Fabrik, aber eine Herrenkleiderfabrik.
Die Tochter und der Herr Schiff hatten zusammen eine kleine Tochter, die, als die Gefahr immer größer zu werden drohte, nach Schweden geschickt werden konnte. Es hatte sich dort ein Ehepaar bereit erklärt, die kleine Tochter anzunehmen, solange hier der Nazispuk dauerte, man hatte zwar keine Ahnung, ob es nicht für länger sein würde, aber jedenfalls, die nahmen sich des Kindes an, und meine Kusine und mein Vetter, der angeheiratete Vetter aus Herford, mußten in einem Transport, der angeblich nach Warschau ging, und auf dem Bahnhof in Herford trafen sie einen früheren Kunden von dem angeheirateten Vetter, der hatte auch eine Kleiderfabrik oder einen Herrenkleidervertrieb in Bremen. Und da trafen sich die beiden, und er sagte: 'Ach, ist ja gut, Sie können dann in der Fabrik in Warschau arbeiten.' Da hatten die auch eine Fabrik aufgemacht, für die Uniformen für Soldaten. Aber sie blieben nicht in Warschau, sondern wurden nach Lublin geschickt, und wie man weiß, wurden alle ghettoisiert, mußten alle zusammen wohnen, die jüdischen Leute. Und das Lager in Lublin wurde angesteckt, also es ist in Flammen aufgegangen. Überstanden haben sie es wahrscheinlich nicht, denn man hat nichts mehr von ihnen gehört."

I.: "Haben sie noch Erinnerungen aus ihrer Kindheit an Bünde und Levisons?"

Frau D.: "Ja sicher; an Levisons und an Blumenaus und an die ganze Familie da. Blumenaus war eine große Familie. Also fast jedes Jahr fuhren wir nach Bünde, weil das ja auch die Geschwister meiner Eltern waren. Levisons hatten einen herrlichen großen Garten, der ging, die Vorderseite auf den Marktplatz, und die Rückseite ging bis zur Kirche, bis zur evangelischen Kirche, die lag in der Gartenstraße, glaube ich, ich weiß es nicht mehr genau.
Ich weiß dann nur, daß, als ich dann verheiratet war und Kinder hatte, daß ich mit der Tochter mal nach Bünde gefahren bin. Die konnte gerade lesen. Und über die Bahnhofstraße war ein großes Transparent gespannt. Und meine Tochter Marianne guckte auf und sah nun, daß da drauf stand 'Juden sind hier unerwünscht' in ganz großen Lettern. Ich weiß nicht mehr, wann es war. Es muß nach '39 gewesen sein, oder um '38, '39 herum, und da sagte Marianne: 'Och, Mutter, komm, wir fahren wieder zurück.' Aber da sah ich denn auf der anderen Seite meinen Onkel Carl und die Tante Auguste, also die Levisons. Und die kamen uns entgegen, die wollten uns vom Bahnhof abholen oder wenigstens entgegenkommen. Ja, so war meine Tochter etwas abgelenkt, und wir gingen dann zusammen zu Levisons zum Essen. Wir blieben dann den ganzen Tag da, und abends sind wir wieder abgefahren. Ich weiß nicht, ob in Bielefeld solch ein Transparent war, habe ich nicht gesehen, erinnere ich mich nicht."

I.: "Und haben Levisons davon erzählt, über die Stimmung, die ihnen entgegengebracht wurde?"

Frau D.: "Na ja, das ist ganz klar, viele Leute mieden sie, die früher fast per Du waren, und besonders gegenüber von Levisons war eine Gaststätte, die war von einem Herrn P(.) betrieben. Ich erinnere mich, jeden Abend, wenn mein Vater da war, ging der auch mit zum Stammtisch, da saßen die ganzen Bürger, und als es nun soweit war, daß überall stand 'Juden sind hier unerwünscht', da hat der P(.) dasselbe getan, hat an seine Haustür genagelt 'Juden sind hier unerwünscht', und die Familie wurde nicht mehr gegrüßt, sondern nur noch bespitzelt. Also ein jahrelanger Brauch war wie abgeschnitten. Es waren überhaupt nur noch wenige Leute, die zu Levisons kamen, und mit Blumenaus und mit den anderen jüdischen Familien hatten sie ja auch im Grunde genommen genug."

I.: "Also haben Sie direkt von den Geschehnissen der "Reichskristallnacht" in Bünde zumindest nichts mitbekommen?"

Frau D.: "Ich habe in Bünde nichts mitbekommen, denn ich hatte ja hier in Bielefeld meine Sorgen. Ich weiß nur, die Synagoge war sehr klein, und die stand im Hinterhof. Wenn wir Ferien hatten, dann sind wir oft hingefahren nach Bünde, und dann war da vormittags Gottesdienst. Aber ich habe die Erinnerung, als wenn die Synagoge nicht direkt an der Straße gelegen hätte, man mußte durch einen Gartenweg oder Torbogen über einen Hof gehen, und da lag sie. Ein kleines Haus. War ja auch eine kleine Gemeinde. Und ich muß sagen, ich glaube, ich bin zum ersten Mal in eine Synagoge gegangen, als ich in Bünde war. Denn ich bin ganz ohne Religion, also, ohne bestimmte Religion erzogen worden. Ich habe mich erst später, als die Situation anders wurde, habe ich vieles gelernt und habe mich dafür interessiert. Und wie das damals so war. (...) Ach ja, es war ja ein kleines Haus, ein kleiner Saal, und ich bin dann nur mitgegangen, wenn die Feiertage waren, die Kinder saßen dann vorne und hinten saßen die Erwachsenen. Und ich kannte auch nicht den Vorbeter, ein Rabbiner war da wohl nicht, ich nehme an, Religionslehrer oder Vorbeter, aber ich kann mich nicht mehr an den erinnern, gar nicht."

I.: "Und wo waren dann die nächsten Berührungspunkte, wo Sie Levisons wiedergetroffen haben?"

Frau D.: "Levisons kamen in einen der Transporte, die die Nazis veranstalteten, und zwar weil sie alt waren, und der Sohn war Kriegsteilnehmer, nach Theresienstadt, und meine Mutter kam auch nach Theresienstadt. Und mit demselben Transport kam auch Frau Spanier mit nach Theresienstadt, und noch eine Frau, ich komme nicht auf den Namen (Anm. d. Hg.: Frau Daltrop meint Frau Johanne Meyer). Die hat auch überlebt und ist auch mit Frau Spanier zusammen zurückgekommen, ist aber eher gestorben als Frau Spanier, war eine schmale, kleine Person. Ich weiß nämlich, in Theresienstadt hatte die ein Amt, und zwar das Entlausen der Leute. Die wurden dann in irgendein Dampfbad geschickt und da sollten die Läuse von sterben. Bei mir sind sie aber nicht gestorben, ich bin mit Läusen hier in Bielefeld angekommen, nachdem ich befreit war.
Ich arbeitete damals hier in Bielefeld in einer Fabrik und wurde aber von der Gestapo von der Arbeit freigestellt, um bei den Transporten zu helfen. Und am nächsten Tag, wenn die Transporte weg waren, mußte ich wieder zur Arbeit gehen. Und da habe ich eben Levisons betreut, und meine Mutter war in demselben Transport und, wie gesagt, die Leute wurden in der Eintracht (Anm. d. Hg.: Die Eintracht lag am Klosterplatz und war ein Gesellschaftshaus, in dem an Feiertagen Tanzveranstaltungen oder Konzerte stattfanden.) versammelt, wir sind morgens hingegangen, ich glaube, der Transport ging nachmittags, ich erinnere mich jedenfalls, ich habe meine Mutter und Levisons auf den Bahnsteig gebracht, und die kamen alle weg, das waren aber Personenwagen, das waren keine Viehwagen. Und ich habe meine Mutter in den Zug gesetzt, sie hatte einen großen Rucksack, den sie natürlich selbst nicht tragen konnte, und dann noch was in der Hand, einen Stock und einen Schirm. Ja, und dann ging der Zug ab mit allen und wir haben nichts mehr voneinander gehört.
Jedenfalls, als wir nach Theresienstadt kamen, als allererstes habe ich meinen Vetter gesehen, der früher ganz dick war und jetzt ganz dünn und eine erfrorene Nase hatte und erfrorene Ohren. Und wie unser Transport ankam, er hatte gehört, daß ein Transport aus Bielefeld kam, ist er da hingegangen. Na, und ich hatte nun noch allerhand Butterbrote und so was, das habe ich ihm alles gegeben. Aber, man hat geahnt, daß es nicht viel zu essen gab, aber so hatte man es sich doch nicht vorgestellt. Wir wurden dann kaserniert, wir kamen in Kavalecs des nachts, das sind Holzgestelle, wo drei Leute nebeneinander liegen konnten, nebeneinander, je nachdem, wie Platz war. Manchmal zwei, manchmal drei, manchmal vier Leute nebeneinander. Und da mußte man eben flach hinein, man konnte sich nicht auf eine Bettkante setzen. Man konnte nur liegend in dieses Kavalec hinein, es war eine furchtbare Quälerei. Wenn wir mittags unser Essen bekamen, Kartoffelsuppe oder Pellkartoffeln, oder ich weiß nicht mehr was, dann, in einem Hof der Kaserne stand immer ein großer Wagen, der zur Kaserne gehörte, meistens waren es Begräbniswagen, die habe sie alle schwarz angestrichen, oder schwarz gespritzt, und das war die einzige Möglichkeit, sich hinzusetzen, entweder auf die Deichsel oder auf den Begräbniswagen, wenn er da war, denn damit wurde das Brot geholt, damit wurden die Kinder, die kamen, transportiert. Also, wie gesagt, jedes Haus, das Gefangene oder Insassen beherbergte, hatte so einen Wagen, und da wurden Koffer mit transportiert, die Leute kamen ja mit Koffern und Rucksäcken an. Ich wurde erst in einer Kaserne untergebracht, also unser Transport aus Bielefeld, ich glaube, wir waren nur an die 45 aus Bielefeld. Eine wunderbar gebaute Kaserne, die zur Zeit Maria Theresias gebaut war, die ganze Festung Theresienstadt hatte die ja bauen lassen, an der Eger.
Mein Vetter Alfred, der kam wieder, der wußte nun, wo ich wohnte, und ich sagte: 'Nun bring mich mal zu meiner Mutter und zur Tante und Onkel Carl.' Aber er hatte noch nichts gesagt, daß meine Mutter nicht mehr lebte. Und da kamen wir an einem Bau vorbei, das war ein Verwaltungsgebäude, und da konnte man erfragen, wo die Angehörigen, wenn man welche da hatte, geblieben sind, und da hab ich danach gefragt. Und da sagte man mir: 'Ja, ihre Mutter ist am 8. oder 10. oder 12. Oktober mit den Transporten nach Oswiecim gebracht. Die ist gar nicht mehr hier.' Nun wußte ich schon Bescheid. Ich hatte aber keine Ahnung, was Oswiecim war, aber das ist der polnische Name von Auschwitz.
Ja, und dann brachte mich Alfred zu seiner Mutter und zu Onkel Carl, die ganzen Bünder lebten zusammen in einem Zimmer. Ich erinnere mich, der Herr Spanier lag im Bett oder auf der Pritsche, und der war ja im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, hatte ja nur noch ein Bein, und sonst hatte er eine Prothese, und die Prothese, weiß ich, sehe ich noch vor mir, hing an der Wand über ihm, so daß, wenn er ausging, er sie anschnallen mußte. Und meine Tante hätte ich beinahe nicht wiedererkannt, die sah aus, so dünn wie eine Spinne, die Hände so dünn und das Gesicht so mager und die Haut hing so, nein, es war wirklich schrecklich. Ja, und der Onkel, das ging. Und nach einigen Tagen ging ich mal wieder hin, also ich wurde natürlich zur Arbeit zugeteilt, ging ich mal wieder hin, und sagte ich zu meiner Tante: 'Wo ist denn Onkel Carl?' 'Ja, der ist im Krankenzimmer, der ist krank.' Und ich sagte: 'Wo ist das?' 'Ja, das weiß ich nicht.' Und dann, nach einigen Tagen, 8 oder 14 Tagen, da bekam ich die Nachricht von Tante überbracht, sie wußte, wo ich arbeitete, sie selbst konnte ja nicht mehr gehen, sie war ja hüftkrank und viel zu schwach, daß der Onkel gestorben war und daß die Beerdigung am nächsten Tag war. Ja, und dann hab ich erlebt, wie so eine Beerdigung ist. Die Beerdigung war in einem der Festungsräume. Dieser Raum lag ziemlich hoch, ein Weg zu diesem Beerdigungsraum schlängelte sich so hoch, denn Theresienstadt war so ein bißchen bergig. Und man sah dann die Menschen Karren schieben, so, das war wie Liegen, wie Tragbahren, auf großen Rädern, da sah man einen Toten nach dem anderen mit Decken bedeckt, mit großen Decken, ein Toter nach dem anderen, das war wie eine Kavalkade, also das werde ich nie vergessen! Und dann kamen wir eben in einen Raum, aber da standen schon vielleicht so 80 Särge übereinander, schwarz. Und da waren dann schon die Angehörigen, die noch da waren, von denen, die gestorben waren, und das war ein Raum, der war weiß getüncht, und, ich glaube, ein Davidstern, in schwarz, an gekalkten Wänden. Und das war die sogenannte Totenfeier, da wurde dann das Kaddisch gesagt. Kaddisch heißt eigentlich 'heilig', das wird gesagt, wenn jemand stirbt, oder wenn sich der Todestag jährt.
Und ..., ja, und als nun die Totenfeier, also das Gebet zuende war, da wurden die Särge, die so im Block standen, auf Lastwagen geschoben, davor waren, zwei oder drei oder vier Pferde gespannt, und dann ging es eben im Galopp, die Särge tanzten auf dem Wagen. Im Galopp wurden die Pferde angetrieben, bis zu einer Schranke. Wir alle mußten da hinterherlaufen, aber die Schranke wurde nur für den Wagen mit den Pferden hochgehoben, und wir mußten vor der Schranke stehen bleiben, und dann sahen wir nur, wie die Särge da auf dem Wagen tanzten, als die Pferde angetrieben wurden. Ich glaube, die wurden verbrannt, die Särge wurden abgehoben, und die Leichen fielen auf die Flamme, so wurde uns das beschrieben. So, daß sie die Särge, die Oberteile, wieder gebrauchen konnten für den nächsten Schub. Dann wurde zwar gesagt, die Asche von jedem würde aufgehoben in so einem Kästchen. So ist das ja wohl üblich? Ja, das war die Beerdigung von meinem Onkel, und so etwas ging Tag für Tag für Tag.
Ich hatte eine Freundin bekommen, deren Mann kam aus Rumänien, aber er war der Baumeister von Wertheim in Berlin gewesen, war ein ganz bedeutender Mann, und er starb da auch, und mit seiner Frau war ich befreundet, sie arbeitete, genau wie ich, sie hat noch ihren Mann besucht und hat ihn gepflegt, soweit man konnte, und eines schönen Morgens kommt sie hin, und da wird ihr gesagt, die Beerdigung ist am anderen Morgen, er, er war da nicht mehr. Auch seine Sachen, alles war da nicht mehr. Na, und das erzählte sie mir, ich sagte zu ihr: 'Ich gehe mit, damit Du da nicht alleine hingehst.' Na, und das war morgens um acht Uhr. Und, nun hatte ich nachts gearbeitet, ich hatte Nachtschicht, und ich habe geschlafen, ich sagte: 'Du weckst mich!' Aber sie hat mich nicht geweckt und ist dann allein gegangen."

I.: "Sie hatten erzählt, daß Frau Levison Geburtstag hatte..."

Frau D.: "Ja, und sie wünschte sich so sehr ein Stückchen Kuchen. Sie sagte: 'Ach, ich bin so hungrig auf Kuchen. Kannst Du mir nicht ein Stückchen Kuchen besorgen?' Ich sagte: 'Ach, wenn ich könnte, würde ich Dir welchen backen. Denn man kriegt hier ja keinen Kuchen.' Ja, ich konnte meiner Tante den Wunsch nicht erfüllen, aber sooft ich konnte, ging ich hin, nicht jeden Tag, das war unmöglich, aber ich ging öfters hin und brachte dann eben ein oder zwei Scheiben Brot, und gewöhnlich sagte sie: 'Ach, Lottchen', sagte sie zu mir, 'bring doch das Brot dem Alfred!' An dem wurden nun Versuche gemacht. Also ich weiß es nicht, was für Versuche, an dem Körper, nicht? Er war ja anomal dick. Es war irgendwas nicht normal an ihm. Aber sonst, er hatte ein sehr gutes Gemüt und war auch ein gebildeter Mann, er ist ja auf's Gymnasium gegangen, hat das Einjährige gemacht, damals in Bünde.
Aber er wollte ja in die Fabrik gehen als Chef, hinterher, wenn sein Vater das nicht mehr tat, also er brauchte nicht zu studieren. Er lag noch mit zwei anderen im Zimmer, aber es stank da so entsetzlich, man konnte es kaum aushalten, aber ich brachte ihm trotzdem, wenn ich Brot übrig hatte. Übrig!
Und dann war ich einmal bei der Tante, das war ein Zimmer, da lagen, glaube ich, zehn Kranke so auf Pritschen, und neben den Pritschen waren so Haken an den Wänden, da hingen dann Mantel oder Morgenrock oder was sie so gerade greifen mußten, wenn sie mal zur "Toilette", Latrine, gingen. Oder wenn sie mal rausgingen. Und da hing dann auch ihr Mantel. Sagte sie zu mir: 'Nun tue mir einen Gefallen, nimm den Mantel mit für Dich!' Ich sagte: 'Inwiefern? Du mußt doch einen Mantel haben, wenn Du mal rausgehst!' 'Nein', sagte sie, 'ich kann ja nicht mehr rausgehen.' Sie hatte ja Hüftgeschichten. 'Und wenn ich nicht mehr da bin, wird alles weggeräumt.' Ich habe es nicht über's Herz gebracht, den Mantel zu nehmen. Überhaupt nichts. Und der war noch so gut und so warm durch den Pelz. Und am anderen Morgen, ich fürchtete schon allerhand, weil, sie sah so schlecht aus, furchtbar sah sie aus, hinterher! Und am anderen Morgen gehe ich hin, und da war alles leer. Sie lag da nicht mehr. Bettzeug nicht, es war eine Pritsche, war nichts drauf, nichts drum, und der Haken war auch leer. Alles sofort weggenommen. Verschwunden, da haben sich ja andere bedient. Na ja, also mir tut es nicht leid. Ich hätte es nicht können, ihr beim lebendigen Leibe da das wegnehmen. Und ich weiß, sie hatte auch noch einen sehr schönen Ring, der war zwar nicht kostbar, aber von ihrer Tochter, ein Elfenbeinring, war wunderbar geschnitzt, na ja, es war nichts mehr da. Ja, das war die Geschichte der Levisons."

I.: "Und von Spaniers haben Sie auch nichts mehr mitbekommen?"

Frau D.: "Nein, ich weiß nur, Frau Spanier hat es überlebt, und wir sind zusammen abgeholt worden von einem Autobusunternehmen hier aus Ummeln. Das besteht noch. Der Mann, der es damals leitete oder das Unternehmen besaß, der fuhr den Bus. Und zwar hatte der Bürgermeister ausgeschrieben, daß die Überlebenden aus den Kz's geholt werden sollten und hat die Busunternehmen, die da noch waren, angeschrieben, und da hat sich einer bereit erklärt, das war der aus Ummeln. Blumenaus sind von Hannover aus weggekommen. Denn der Rudolf hatte inzwischen geheiratet, um eben nicht alleine zu sein mit der alten Mutter; die sind dann nach Hannover gezogen und sind von Hannover aus weggekommen. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört."



Interview mit Frau Erna Spanier, Bünde, Anfang des Jahres 1972


Interviewer: Horst Niedermeier, Rödinghausen

Erna Spanier, geb. im Jahre 1897, stammte aus Schüttorf und hatte bis zu ihrer Verheiratung mit dem Bünder Kaufmann Willy Spanier im Jahre 1941 in dessen Geschäft als Verkäuferin und Haushälterin gearbeitet. Erna Spanier wurde gemeinsam mit ihrem Mann und 15 anderen Bünder Juden am 29.7.1942 in das KZ Theresienstadt verschleppt. Erna Spanier, Willy Spanier und Johanne Meyer waren die einzigen Bünder Juden, die die Haftzeit in Theresienstadt überlebten. Erna Spanier berichtet in dem Interview zunächst über die Ereignisse während des Pogroms am 10.11.1938 in Bünde und beschreibt anschließend die Zeit ihrer Haft in Theresienstadt.


"Am 10.(11.1938) bin ich in der Küche beschäftigt, meine Schwägerin kommt nach oben und sagt: 'Komm mal herunter, die Polizei ist da, hat Willy und Otto geholt.' Ich wußte gar nicht, was passiert war. 'Geholt?' 'Ja, mit der Polizei.' Wir hatten überhaupt keine Ahnung, was in Bielefeld schon alles passiert war. Und der Polizist hat gesagt: 'Sie brauchen sich nicht aufzuregen, die kommen gleich wieder.' Es dauerte nicht lange, da wurde mein Mann zurückgeschickt, weil er Kriegsbeschädigter war. Etwas darauf kommt mein Kind aus der Schule und sagt: 'Mutti, Mutti, was ist denn los, die Lehrer haben mich nach Hause geschickt, ich brauchte nicht zur Schule zu kommen, ich brauche auch keine Schulaufgaben zu machen.' Ein bißchen darauf kommt ein ganz bekannter SS-Mann ins Haus und läßt sich unten alles zeigen. Ich bin in der Küche. Da! 'Aufmachen!' Er hat sich alles angesehen, und mein Mann kam inzwischen zurück. Natürlich ganz aufgeregt, wurde mit unserem Wagen zurückgebracht. Er sagte: 'Ihr braucht euch nicht aufzuregen, die anderen werden auch bald kommen.' Die anderen kamen aber nicht zurück, sondern - in der Bachstraße war seinerzeit so ein Gewahrsam - da sind alle eingeliefert. Alle Männer sind da eingeliefert, also die arbeitskräftigen, und mein Mann ist zurückgekommen, weil er kriegsbeschädigt ist. Er kam wieder, die anderen nicht. Eine Stunde darauf kommt eine Familie Hecht aus Lübbecke, die hatten da eine Kleiderfabrik. Aufgeregt. Wir hatten überhaupt noch keine Ahnung. 'Was, ist denn hier noch gar nichts los? Wißt ihr denn nicht, was los ist? Bei uns ist alles zerschlagen und zertrümmert.' Wir wußten gar nichts. Sie sind dann bei uns geblieben. Kurz darauf kommt die Kusine von meinem Mann, eine Frau Bloch, mit ihren Kindern, auch weinend. Der Mann war auch weggeholt. Ja. So saßen wir dann stundenlang und überlegten, wann kommen sie wieder, wann sind sie wieder da, was passiert? Ich guckte mal ab und zu nach dem Essen. Natürlich haben wir überhaupt nichts gegessen. Und wir sitzen im Herrenzimmer der Gaststätte, von da aus ging es ins Geschäft. Wir sitzen zusammen, und wir hatten noch zwei Verkäuferinnen, die wollten dekorieren, die waren am Ausräumen. Und meine Tochter sagt zu mir: 'Mutti, ich mache aber doch meinen Aufsatz.' Ich sage: 'Kind, das brauchst du doch gar nicht, wenn du doch nicht zur Schule ...' 'Doch, ich mache das.' So sitzen wir den ganzen Nachmittag, und um fünf Uhr, wir unterhalten uns, keiner wollte was essen, da ging es los: Die Fensterscheiben kaputt. Mit einem Mal. Alles kaputt, zertrümmert und zerschlagen, und die Gaststätte, das Klavier zertrümmert, die Leuchter zertrümmert, die Eindringlinge sind dann in den Keller gegangen, die Alkoholfässer kaputt gemacht und uns eingekreist in dem Herrenzimmer. Wir durften nicht raus. Eingekreist von der SS. Sagte die Kusine von meinem Mann: 'Lassen Sie uns doch heraus, wir sind doch gar nicht von hier, wir sind doch nur hierher gegangen, weil mein Mann nicht da ist.' 'Das wollten Sie wohl! Ihr bleibt schön alle hier.' Da haben sie so einen Kordon gebildet, und wir saßen da drin, konnten nicht rein, konnten nicht heraus. Wir mußten drin bleiben, bis alles kaputt war. Aber restlos alles kaputt. Da haben wir genug Leute gesehen, von Bünde, waren auch andere dabei, es war nichts mehr heile, gar nichts, und dann hieß es: 'Juden raus!' Über die Trümmer hinweg, ja wohin? Zur Polizei. Morgens, als das passierte, sagte mein Kind: 'Mutti, wenn das hier passiert, wie in Lübbecke, dann gehe ich in die Else.' Wir wurden herausgeführt, ich sah mein Kind nicht mehr, und mein Mann war weg, der hatte sich herausgeschlängelt zu Herrn Rosenwald , ... in die Sedanstraße. Und das Kind auf allen vieren, mit den Verkäuferinnen durch die Hecke weg, auch zu Herrn Rosenwald. Jetzt waren wir aber zur Polizei gebracht, mit SS. Und wie wir zur Polizei kommen, da saßen sie alle, auch der Polizeimeister, der sagte: 'Sie brauchen hier keine Angst zu haben, es passiert hier nichts.' Jetzt saßen wir da, meine Schwägerin und deren Mutter, die war aus Bayern hierhergezogen und wohnte bei Herrn Rosenwald mit ihrer Haushälterin. Mein Mann war nicht dabei - und ich war dabei, und die Blochs. Und kaum sitzen wir da, da kommt ganz gebrochen das alte Ehepaar Levison. Den Sohn hatten sie auch geholt. Da saßen wir nun alle zusammen. Wir mußten warten, was geschah. Wir wußten ja nicht, was über uns noch kommen sollte. Da haben wir dann Stunden gesessen, und mein Kind war weg! Ich war wahnsinnig, ich wußte gar nicht, was ich tun sollte. Ich habe gesagt: 'Das Kind hat gesagt, wenn das hier passiert, gehe ich in die Else.' Da haben sie mich denn beruhigt, und ein Polizist hat gesagt: 'Ich gehe und suche Ihr Kind.' Und das Kind fand sich nicht. Bis dann jemand auf den Gedanken kam: 'Wir wollen mal bei Herrn Rosenwald anrufen, weil er bei Ihnen doch in der Nähe wohnt.' Und da kam - Gott sei Dank! - die Nachricht, es hatte sich dahin geflüchtet. Dann waren wir einige Stunden auf der Polizei, und dann sagten sie: 'So, jetzt zum Haus Levison.' Dann in Polizeibegleitung haben sie uns alle zusammen in die Villa Levison gebracht. Das war vielleicht ein Bild. Ich kann Ihnen sagen, auf der Treppe lagen schon die Schränke und die Stühle und das Geschirr, es war nichts mehr heil in der Villa, aber auch alles kaputt. Kein Fenster mehr in dem Haus, nichts. Da mußten wir hin. Und da kriegten wir dann von dem Leiter der Polizei den Auftrag, das Haus nicht eher zu verlassen, bevor wir Nachricht bekommen. Jetzt waren wir da, und wir hatten natürlich auch Durst und Hunger, eine Tasse, nichts zu essen, nichts zu trinken. Wir hatten nichts, mußten dableiben, mein Mann war nicht da. In der Nacht kommt dann, die Levisons hatten eine Tochter, die hatten eine Fabrik für Stewards und Stewardessen, - Schiff, ganz alteingesessene Leute, alle umgekommen in Warschau, - die hat sich denn mit ihrem Chauffeur in Verbindung gesetzt, um sich um ihre alten Eltern zu kümmern, die kam - Gott sei Dank! - mit etwas zu trinken. Dann sind wir ein paar Tage geblieben, und dann kriegten wir die Nachricht, wir könnten jeder da hingehen, wo wir hin müßten. Alle konnten sie gehen, nur wir nicht. Wir hatten doch nichts mehr. Ich hatte noch eine blaue Schürze vor, weil ich gerade an der Theke gearbeitet hatte. Nun hatte mein Mann noch eine Schwester in Ennigloh, wo jetzt das Kino ist, da sind wir ein paar Tage gewesen, da war es aber so schrecklich kalt, das ging nicht mehr. Inzwischen war aber eine Familie Mildenberg, Vetter meines Vaters aus Melle, die konnten auch nicht in ihrem Hause bleiben, die haben die untere Etage von Levisons bekommen. Und dann hat man uns da zwei Zimmer von abgegeben. Unten ein großes Zimmer, das hatten wir abgekleidet für Schlafzimmer und Wohnraum, und das Kind und die Haushälterin von denen waren oben. So haben wir denn da hausiert. Nachher mußte noch die Familie Rosenberg dazuziehen, Frau Löwenstein mußte ebenfalls aus ihrem Hause. In der Nacht (vom 10. auf den 11.11.1938) sitzen wir auf den Treppen und simulieren: 'Wo sind die Männer? Was ist geschehen?' Wir wußten ja gar nicht, wo sie waren. Nachher kam dann die Nachricht, daß sie in Buchenwald waren. Mit einem Mal geht die Sirene. Und die Haushälterin von der Mutter meiner Schwägerin sagt: 'Kommen Sie mal her, gucken Sie mal da hinüber. Ist das nicht, wo ... das Haus steht?' Ich sage: 'Nein, das ist nicht ...' Meine Schwägerin, eine furchtbar ängstliche Seele, sagt: 'Ist das unser Haus?' 'Ach was', sage ich, 'Ilse, ist ja gar nicht unser Haus!' Dachte ich wohl, wußte es ja auch nicht. Um 12 Uhr abends brannte das dann. Da haben wir nur den Schein gesehen, wir haben nichts mehr davon wiedergesehen. Sie haben meinen Mann allerdings zwei Tage später geholt, da war noch ein Geldschrank, den sollte er aufmachen. Da hat er gesagt: 'Ich habe keine Schlüssel, die hat mein Bruder gehabt.' Und der war aber in Buchenwald. Die wollten alles haben, was da drin war, konnte er nicht aufmachen. Ich glaube, wenn er es auch gekonnt hätte, hätte er es auch nicht getan. Aber er hatte wirklich keine Schlüssel, und mein Schwager war ja nicht da. Dann waren wir zwei Tage bei Levisons, und dann rief der Polizist an: 'Einzeln und unauffällig alle dorthin gehen, wo Sie Ihre Wohn-, wo Sie Ihr Haus hatten.' Aber wir hatten ja keins. Wir sind dann nur zwei Tage bei meiner Schwägerin geblieben, die war schon in der Auswanderung nach Argentinien. Dann sind wir aber bei Levisons gewesen, und dann begannen da dann die Schikanen. Abgebrochen hatten sie in derselben Nacht (10.11.1938) die Synagoge hinter dem Hotel Schierholz. Dazu haben sie geschrieben: 'auf kaltem Wege abgemacht', denn das konnten sie ja nicht anstecken, dann wäre die ganze Ecke aufgebrannt. Oder das Haus der Rosenbergs, die die Metzgerei da hatten, neben Biermann, konnten sie ebenfalls nicht anstecken. Rosenberg war verkauft an Altemeier. Und der hatte sich in der Nacht dahin gestellt und hat gesagt: 'Hier wird nicht angesteckt. Ich habe das gekauft. Und hier wird nichts zertrümmert.' Und woanders? Die anderen Sachen waren alle verkauft. Und nachher mußten sie alle zusammenziehen. Dann war in der Nacht noch ein großes Manöver. Die SS kam an die Tür. 'Hälse abschneiden! Alle raus! Hälse abschneiden!' Und da wohnte unten in der Etage von Levisons der Leiter von Dörffler seinerzeit. Und der hat uns dann beruhigt, wir waren nämlich, können Sie sich ja wohl vorstellen, vollkommen schutzlos, mein Mann war auch gar nicht da, der war bei Herrn Rosenwald. Und dann sagte der: 'Sie brauchen sich nicht aufzuregen, ich schütze Sie.' Und das hat er auch getan, und als Dank dafür mußte er am anderen Tag ausziehen. Da waren sie betrunken, die Leute. Was da geblieben ist, und wo das geblieben ist, das wissen wir nicht. Wir haben nichts behalten. Es ist nichts mehr herausgekommen. Geld und Gut. Ich hatte - gerade war ich wiedergekommen von der Reise von meinem verstorbenen Vater - hatte eine Kassette auf dem Tisch, und auch Schmuck hatte meine Mutter da, von der Schwester von Herrn Rosenwald. Nichts! Wir haben nichts behalten, nur was wir am Leibe hatten, das war alles. Das war die Novembernacht. Das war aber abgeblasen, aber das mußten sie noch eben brennen sehen. Was da sonst alles geschehen ist, wissen wir nur von anderen Leuten. Es kamen natürlich in den Nächten darauf die Leute, die anständig waren, zu uns, zu Rosenwalds. Haben uns auch was gebracht. Meinem Mann auch was zu rauchen oder was zu essen. Haben sie auch gemacht. Aber ein ganz gefährlicher Bursche war der N(.). Sobald einer hereinging, hat der schon angerufen bei der Polizei: 'Wissen Sie, der und der geht da rein.' Ja, so haben wir da kampiert. Da mußten mit uns hereinziehen Frau Löwenstein, die wohnte dort, wo jetzt die Commerzbank ist, und Rosenbergs und meine Verwandten, also diese Familie Mildenberg aus Melle mit zwei Söhnen und wir, wir wohnten da dann in einem Hause. Die Söhne wanderten aus, und wir bekamen dann die Schikanen: erstens den Stern. Zweitens kamen sie in der Nacht, rissen - horchten mal erst, ob wir noch Radio hatten, ob wir auch Ausland hörten -, rissen uns das Radio weg, niemand durfte die Stadt verlassen, wir durften nur auf besonderen Karten Lebensmittel haben, nicht alles, was die anderen bekamen, wenn wir etwas zugesteckt kriegten, aber nur ganz eben, daß wir zum Leben hatten. Und so haben wir denn kampiert unter großen Entbehrungen und Schikanen. Wenn wir über die Straße gingen, riefen Klaustermeier und Genossen: 'Runter vom ... Bürgersteig!' Und so weiter. Der hat ja nun auch seine Strafe. Das war ja der Schrecken von Warschau. Und da haben wir denn so gelebt, wie wir konnten, und dann kam eines Tages mein Mann, hatte die Leitung hier von der Gemeinde, und der mußte dann immer nach Bielefeld, da gab es einen Hilfsverein. Und über den Hilfsverein bekamen wir unsere Anordnungen. Mein Kind sollte schon (19)38 weg, und da schrieben sie, ich sollte sie fertig machen für die Reise nach USA. Es wurde nach Zeugnissen und so weiter ausgesucht. Und das kam nicht, das haperte, sie sollten über Rußland, Japan oder irgendwie. Und da sind so unglückliche Berichte gekommen, daß Kinder wochenlang in kalten Zügen waren, das wollten sie nicht mehr. Jetzt kam aber der 9. November, da wurde alles gestoppt. Und nach sechs Wochen ungefähr kamen die Männer wieder. Die waren alle in Buchenwald. Da haben sie genug miterlebt. Und dann im August, am 2. August (1941), als mein Mann die Nachricht kriegte, brachte ich meine Tochter Lotte weg. Wir sind dann im Juli (1942) nach Theresienstadt gekommen, alle die wir hier waren. Da hieß es dann, alle die Arbeitsfähigen, die müssen arbeiten und die anderen müssen kochen. Das ganze Geld abgenommen. So wie wir in Bielefeld waren, wir wurden nach Bielefeld transportiert, und als wir in Bielefeld waren, da wußten wir schon Bescheid, da mußten wir an der Erde liegen, und da wurde gesagt von der Gestapo, wir kommen nach Theresienstadt, wir sollen unser Geld abgeben, und wenn wir in Theresienstadt ankommen, kriegen wir es wieder. Wir haben schön was wiedergekriegt! Wer nicht mehr konnte, wurde erschossen. Mit Prügeln, mit ihren Polizeihunden stand die SS da. Und dann waren wir 72.000 in Theresienstadt, mit 4.000 sind wir zurückgekommen. Wir hatten 60 cm auf der Erde, keine Decke unter, keine Decke über, kein Bett, nichts! So wie wir gekommen sind, haben wir da die Jahre gehaust. Mit schwerer, schwerster Arbeit, mit sehr viel Schikanen und steter Angst, daß wir wegkommen mußten, von uns ging es nach Auschwitz und irgendwohin, sobald jemand was gemacht hatte. Ich habe dann in der Landwirtschaft gearbeitet. Wir wurden abgeordnet, Läuse suchen und Jauche tragen und Schweineställe ausmisten und Seidenraupen und Hunde züchten. Wir mußten das einfach. So haben wir gehaust, die ganzen drei Jahre, bis dann eines Tages wohl ein schwedischer, bekannter jüdischer Mann gekommen ist, und der hat mit Himmler ein Abkommen gemacht. Dafür, daß er keine Juden mehr umbringen läßt, verlangte er so und so viele Lastzüge und der Schwede sollte freies Geleit erhalten. Und das hat er dann auch bekommen. Und dann, vier Wochen vor unserer Befreiung, kam der Herr Dunant, der Sohn des Gründers des Schweizer Roten Kreuzes zu uns ins Lager. Und ich hatte drei Häuser, die ich verwalten mußte, damit da Ordnung war, es mußte ja Ordnung sein, die SS kam doch nachts, und es durfte kein Stück Papier herum liegen. 300 auf einer Toilette und so weiter. Es war ein schweres Amt. Und dann kam er und hielt da Appelle ab, und sagte, er ist jetzt bei uns, und wir sollen keine Angst mehr haben, es wird nicht mehr deportiert. Und das ging dann gut, und diese Appelle mußte jeder, der die Häuser verwaltete, weitergeben. Und eines Tages sagt er, er muß weg. Da kam der Russe. Die Befreiung steht bevor, am Tage vorher, wir haben bis dahin nichts vom Krieg bemerkt. Aber am Tag vorher waren schwere Luftgefechte über unserem Lager, aber da wußten wir immer noch nichts. Aber er sagte dann hinterher wieder beim Appell, er muß weg, der Russe wird wohl Theresienstadt besetzen. Und die haben ihr eigenes Rotes Kreuz. Wir können ihn mittelbar oder unmittelbar in Prag erreichen. Am 8./9. Mai (1945) sind wir dann befreit worden, von der einen Seite kam der Amerikaner, von der anderen Seite kam der Russe. Nun hätten wir ja lieber gehabt, daß der Amerikaner ins Lager kam, aber in dem Moment war es uns ja alle egal. Dann hat uns der Russe befreit. Hat uns auch ganz anständig, - obwohl ich den nicht sehen kann - hat uns in dem Moment aber anständig behandelt, und wir waren ja eingezäunt in Stacheldraht, und lagen direkt an der Straße von Leitmeritz nach Prag. Und da waren wir hinter dem Stacheldraht, und da sagte er: 'Was seid ihr für Menschen?' Und die Tschechen, - wir waren ja viele, viele Tschechen, die konnten ja Russisch - sagten, das und das sind wir. 'Was seid ihr? - Menschen seid ihr!' Da haben sie den Stacheldraht eingetreten und uns natürlich sofort versorgt, das muß man sagen. Haben auch alles getan, bei uns war Fleckfieber ausgebrochen, und gaben Appelle, ich hab heute noch einen Durchlaßschein von dem russischen Kommandanten Kosmin. Der sagte, wir sollen jetzt nicht selbst tun was die Nazis wollten, wir sollten uns nicht selbst umbringen, wir sollen arbeiten, rabotten und sauberhalten. Denn sie versichern uns, daß sie in vier Wochen den Typhus bekämpft haben. Und das haben sie auch wirklich fertiggebracht. Wir können uns in der Zeit nicht darüber beklagen, sie haben uns wirklich gerettet. Und somit sind wir dann noch bis Juli im Lager geblieben, bis dann eines Tages ein Auto von Bielefeld kam, wo wir mit zurückgefahren sind. Aber drei Jahre, das war jede Nacht die Schinderei und jeden Tag wurde ausgesucht für Auschwitz und jeden Tag den Tod vor Augen gehabt. Es waren Jahre, die man gar nicht schildern kann."



Interview mit Frau Lotte Isaacs, Piedmont (USA), anlässlich eines Aufenthaltes in Bünde, am 3.6.1987


Interviewer: Jürgen Bolz, Annette Kerschling u. Norbert Sahrhage, alle Bünde

Lotte Isaacs (geb. Rosenberg), geb. im Jahre 1926, ist die Tochter Erna Spaniers. Sie kam gemeinsam mit ihrer Mutter im Jahre 1936 nach Bünde. Frau Isaacs konnte als fünfzehnjähriges Mädchen noch im Jahre 1941 Deutschland verlassen und mit einem Schiff von Portugal aus in die USA gelangen. Frau Isaacs berichtet über ihre Eindrücke, die sie als Schulkind in Bünde gesammelt hat, über ihr Schicksal in den USA und über ihre Empfindungen bei ihren Besuchen in Bünde.

I: "Frau Isaacs, Sie haben einen Teil Ihrer Kindheit hier in Bünde verbracht, Sie sind auch hier zur Schule gegangen. Können Sie uns darüber etwas erzählen?"

Frau I.: "Ja, das ist wahr. Das war an sich eine kurze Zeit. Ich wohnte hier von 1936 und bin dann '41 ausgewandert, aber die 'Kristallnacht', wie Sie wissen, war '38, so die Schulzeit waren zwei knappe Jahre. Ich habe daran keine guten Erinnerungen. Ich habe mich nie wohlgefühlt, und ich hatte wenige Freundinnen, und die haben immer Angst gehabt, mit mir zu spielen oder mit mir auf die Straße zu gehen. Und ich bin so, wenn man Pause hatte, öfters alleine gewesen, war aber ganz fleißig in der Schule. Ja, ich fühlte mich nicht wohl in der Schule, denn da war schon ganz viel Antisemitismus in der Zeit, und in den Zeitungen, bin immer vorbeigegangen, diese Maler in den Zeitungen haben immer Spaß gemacht auf Juden, und ich habe immer Angst gehabt, und es war überall schon ganz bekannt, daß Juden sind verboten, überall, wo man hingegangen ist. Das war eine ganz schwierige Zeit, und ich muß ehrlich sagen, daß ich keine Kinderzeit gehabt habe, ich habe nie mit Kindern gespielt, und war nur mit Erwachsenen, da waren so wenige jüdische Kinder in meinem Alter, die noch in Bünde wohnten, und meine Jugend war an sich besser, nach der 'Kristallnacht'. Natürlich konnte ich nicht mehr zurück zur Schule, und dann, später, war eine Gelegenheit, wo ich jeden Tag nach Herford gefahren bin zu einer jüdischen Gemeinde, da gab es einen Lehrer, und jüdische Kinder von Herford und Umgebung sind da hingegangen, und wir haben Unterricht bekommen, und meine Mutter war ganz streng darin, die wollte, daß ich Englisch lernte. Das war so provisorisch, besser als nichts. Und dann hatte ich die Gelegenheit nach Köln zu gehen, zu einem Pensionat. In Köln war eine jüdische Schule. Und ich wohnte in einem Pensionat, da waren Mädchen und Jungen von ganz Deutschland, das war sehr teuer, und meine Mutter hatte das Glück gehabt, genug Geld zu haben, mich dahinzuschicken. Und ich war, von '39 ungefähr zwei Jahre da, und Köln zu der Zeit war jeden Abend gebombt. Und das war natürlich ganz gefährlich. Und dann hat meine Mutter gesagt: 'Du kannst da nicht mehr bleiben, du mußt wieder zurück nach Hause.' Nach der 'Kristallnacht' mußte meine Mutter eine Haushälterin werden, denn sonst wäre sie schon ins KZ weggeschickt worden. Die war jung, und meine anderen Verwandten waren schon weg, und mein Stiefvater, - zu der Zeit waren die noch nicht verheiratet -, der blieb hier in Bünde. Und ich bin öfter bei ihm gewesen, und er wohnte in dem Haus mit Levisons zusammen, und wenn ich mal Schlaf haben wollte, dann habe ich mich ziemlich wohlgefühlt, aber keine Schule gehabt. Und meine Mutter arbeitete für eine ältere Dame als Haushälterin in Bielefeld, so daß sie nicht weggeschickt worden ist. Und ich habe immer gewartet, und einmal habe ich das Glück gehabt, in '41, daß ich Papiere bekommen habe, um nach Amerika zu gehen, und dann habe ich in Bünde gewohnt und in Bielefeld gewohnt bei meiner Mutter, aber keine richtige Schule mehr gehabt, keine Kinder, mit denen ich spielen konnte, und ich bin auf einmal ganz erwachsen geworden. Und das war natürlich eine ganz schlimme Situation, wo man immer mehr nicht das kaufen konnte, was man benötigte, und Juden galten wirklich nichts mehr. Man konnte nirgends mehr hin, und man hat Angst gehabt, auf die Straße zu gehen. Und man hat immer das Gefühl gehabt, daß man das einem ansehen kann, daß man Jüdin ist. Das hat lange gedauert, bis das mal vorbeigegangen ist. So, endlich, in '41 bin ich mit einem Kindertransport - so hat sich das genannt - ausgewandert. Man mußte unter 15 Jahren sein für die Amerikaner, noch Kinder, und wir hatten so Stiefeltern, die gesagt haben, die wollten uns annehmen, und wir waren zu acht. Und ich habe einen Zug genommen nach Berlin, und da wohnten wir in einem Kinderheim auch für die Zeit, und dann ging es natürlich auch mit einem Zug, der abgeschlossen war, und da waren andere Leute außer uns acht, die ausgewandert sind. Wir haben nicht gewußt, ob wir mal nach Portugal kommen oder vielleicht in irgendein KZ, das haben wir gar nicht gewußt, es gab nichts zu essen, wir mußten alles selbst mitbringen, mit Rucksack und so weiter, und wir hatten so ein Abteil und kein Wasser und keine Toiletten. Das war eine lange Fahrt, und wir konnten nicht aus dem Fenster rausgucken. Wir wußten nicht, wo wir waren, und die haben uns dann ganz kontrolliert und eines Tages, man hat schon vergessen, wie lange das gedauert hat, es hat ungefähr drei Tage gedauert, waren wir in Paris. Und da haben wir aus dem Fenster geguckt, und die Leute haben gebettelt, die haben gedacht, wir haben was zu geben, haben wir aber nicht gehabt. Und von da ist der Zug zur Grenze gegangen, der spanischen Grenze, und der Zug ist da geblieben, an der französischen Grenze nach Spanien. Und die haben gesagt: 'Jetzt raus!' Und wir haben gesagt: 'Okay.' Und dann sind wir wirklich über die Grenze gegangen, per Fuß. Und waren an der spanischen Seite und haben was zu essen bekommen und sind dann über Nacht da in einem Hotel geblieben. Und von da ist es dann am nächsten Tag nach Lissabon gegangen. Und in Lissabon waren wir ungefähr zehn Tage, jeden Tag war was anderes, denn der Krieg war schon da. Und die haben gesagt, vielleicht haben wir ein Schiff, vielleicht haben wir nicht ein Schiff. Und Dr. Paul Levison war auch in Lissabon und hat auch gewartet auf dasselbe Schiff. Und wir haben Glück gehabt, daß wir wirklich auf das Schiff gegangen sind. Hat zehn Tage gedauert, und sind endlich in New York angekommen. Aber die Zwischenzeit, das war natürlich eine ganz schlimme Situation. Und das Schiff, das war wirklich kein Schiff, das war für Vieh angebracht, und die Hygiene und das Essen und alles, das war.... Wir waren dankbar, daß ich ein Paar kannte, das waren Bekannte von meinen Eltern, die hatten ein Zimmer, und die haben gesagt, wir können immer dahinkommen zum Baden, meine Freundin und ich. Und abends haben wir da in solchem Saal geschlafen unter einem Klavier, denn sonst mußte man zu dritt schlafen, das war gar nicht zu beschreiben. Aber ich bin dankbar, daß ich dahin gekommen bin."

I.: "Haben Sie zu der Zeit dann, als Sie schon von Zuhause weg waren, auch noch Kontakt zu Ihrer Mutter haben können?"

Frau I.: "Ah, ganz wenig, denn der Krieg ist dann schon ausgebrochen, ich bin im September '41 in New York angekommen, ich schrieb ihr mal, und sie hatte eine Postkarte von mir bekommen, von Lissabon mit einem Bild, und sie hatte das noch hier. Ich hab das in ihren Akten gefunden. Eine Postkarte, die ich geschrieben habe vom Schiff, und die hat sie bekommen, und das war im September 1941, und dann hat sie vielleicht noch einen Brief bekommen, aber die sind dann bald nach Theresienstadt gegangen, und der Krieg war mit Japan, und das war der Anfang von dem Weltkrieg. Und da gab es keinen Kontakt mehr."

I.: "Sie wußten dann also auch nicht, wo Ihre Eltern geblieben sind?"

Frau I.: "Nein. Ich habe keine Idee gehabt. Ich wußte wohl, daß sie alle nach einem KZ gegangen sind, aber nicht wo. Meine Mutter hatte sich mit Herrn Spanier verheiratet, und da er so schwer kriegsbeschädigt war, haben sie Rücksicht auf ihn genommen, und darum waren sie die letzten mit den alten Leuten, die nach Theresienstadt gegangen sind. Und die anderen Bünder Juden sind schon lange weg gewesen. Die haben sie weggeschickt, das wußten wir. Von '38 bis '41 waren die meisten Leute von hier schon weg. Es waren nur noch ein paar übrig, die alten Leute, und die alten Kranken. Sie sind dann zu dritt zurückgekommen."

I.: "Und Sie sind nach New York gekommen?"

Frau I.: "Nein, ich bin in New York gelandet, und ich hatte ein Ehepaar, das dachte, daß ich vielleicht mit ihnen verwandt wäre; in Omaha, Nebraska, wohnte ich und bin da zur Schule gegangen und habe da studiert. Und habe mich dann auch in Omaha verheiratet. Und das ist an sich dann meine Heimat, obwohl ich schon lange Jahre in Kalifornien bin. In '45 habe ich mich in Omaha verheiratet, und mein Mann ist Arzt geworden, und ich war in anderen Orten, ich war erst in Chicago, dann in Panama, und dann all diese Jahre schon in Kalifornien. "

I.: "Wie haben Sie dann Ihre Mutter wiedergefunden?"

Frau I.: "Durch das Rote Kreuz. Sie wußte, wo ich war, sie hatte meine Anschrift bekommen, und das Rote Kreuz hat Telegramme geschickt. Meine Eltern hatten einen englischen oder amerikanischen Soldaten in Theresienstadt getroffen und meine Mutter hat ihm meine Anschrift gegeben, und der hat die nach jemand anders in New York geschickt, und dann haben die mir geschrieben, und so habe ich gewußt, daß meine Eltern leben. Das hat natürlich Wochen gedauert, bis wir was gehört haben durch das Rote Kreuz. Das war Jahre her seit der Zeit, wo man noch Briefe schreiben konnte."

I.: "Wann haben Sie Ihre Mutter zum ersten Mal wiedergesehen?"

Frau I.: "16 Jahre später. Das war '41, na, da war es '57? Ungefähr so. Meine Mutter ist dann nach Amerika gekommen. Und es waren 20 Jahre später, als ich das erste Mal wieder zurück nach Bünde kam, in '61. Ich war natürlich öfter hier wieder in diesen Jahren."

I.: "Und das hat sich dann für Sie natürlich sehr verändert?"

Frau I.: "Nicht so viel, Bünde ist ziemlich so geblieben, nur die Eschstraße, diese Ecke so, hat sich verändert. Aber so im großen und ganzen ist alles so geblieben. Bis auf den Goetheplatz, ja, der war mal ganz schön, ist aber nicht mehr schön heute, ich nenne das eine Autobahn. Ich bin natürlich ganz enttäuscht, aber ich glaube, daß die Stadt das Recht hat, das machen zu können, aber das war nicht der Gedanke im Anfang an. Das sollte ein schöner Park bleiben, mit Bänken und schönen Anlagen. Und jetzt, ich bin so enttäuscht."

I.: "Wie sind Sie denn von Ihren Lehrern behandelt worden?"

Frau I.: "Ich erinnere mich gar nicht mehr genau daran. Ich erinnere mich mehr an die Schüler. Vor zwei Jahren war ich hier, und in den ersten Jahren, wenn ich gekommen bin, habe ich gar nichts mit den Bündern zu tun haben wollen, und das Gefühl ist heute auch noch so. Und ich habe ganz wenige Freunde, aber vor zwei Jahren hatte ich eine nette Nachbarin an der Eschstraße, die leider tot ist, und die hatte ein Treffen von der Schule, von der Klasse, das erste Mal seit 40 Jahren, und die hat gesagt: 'Komm doch mit!' Da habe ich gesagt: 'Das kann ich nicht machen, ich kenne niemand.' Ich bin aber hingegangen. Und das war ganz interessant. Die Männer habe ich gar nicht gekannt. Die Mädchen wohl, und die haben mich alle gefragt: 'Wo warst du die Jahre? Was ist dir geschehen? Wo bist du hingegangen?' Und die haben mich alle erkannt. Das war ganz interessant. Und ich war für einige Monate hier, und ich habe verschiedene von den Damen mal wiedergesehen, ich hatte ihnen versprochen, wenn ich das nächste Mal kommen würde, sollten wir zusammen Kaffee trinken. Und die erinnern sich an viel mehr als ich mich erinnere. Natürlich haben sie diese ganzen Jahre hier gewohnt. Die wissen mehr als ich weiß."

I.: "Zur 'Kristallnacht'. Ihre Mutter hat ja davon erzählt, daß Sie ausgerissen sind ..."

Frau I.: "Ja, das ist wahr. Aber ich habe solch eine Angst gehabt, und ich bin gleich in den Garten gelaufen, und da waren Hühner und so, und da bin ich da reingegangen, ich habe mich da versteckt, und ich konnte natürlich alles hören und bin da lange geblieben, und endlich habe ich mich getraut, dann durch den Garten zu gehen, und meine Mutter war schon weg, die haben sie schon durch die Straßen laufen lassen. Und dann bin ich zur Sedanstraße gegangen, zu Herrn Rosenwald, den ich kannte, das Haus steht heute noch, und da bin ich geblieben mit ihm und seiner Hausdame. Und später habe ich gehört, wo meine Mutter ist, und dann mußten wir alle zu Levisons."

I.: "Ihre Eltern mußten ja dann bei Levisons wohnen. Sie sagten, Sie seien im Internat gewesen in Köln, aber ab und zu auch hier. Wie haben Ihre Eltern denn da gewohnt?"

Frau I.: "Mein Stiefvater war an sich alleine hier in der Zeit. Ich glaube '39, als ich nach Köln gegangen bin, mußte meine Mutter als Putzfrau zu einer jüdischen Dame nach Bielefeld, und sie hat da gewohnt. Und ich habe bei ihr gewohnt. Ich bin auch hier in Bünde gewesen, das war ein fantastisches Haus, das war wirklich wie eine Villa, das sieht heute ganz schrecklich aus. Die hatten wunderschöne Gärten und alles. Und an der ersten Etage hatten die allerlei Zimmer, Musikzimmer, Bibliothek und so, und die haben ihnen ein ganz großes Zimmer gegeben, und die haben das dann geteilt, es war dann Wohnzimmer und dahinter war das Schlafzimmer und eine Küche. In der dritten Etage, ganz oben, hatten die viele Zimmer für Mädchen. Und ich habe immer da oben geschlafen, wenn ich gekommen bin, da war allerlei Platz. Und die zweite Etage haben Levisons selbst gebraucht."

I.: "Wohnten noch weitere Familien da?"

Frau I.: "Die waren alle zur 'Kristallnacht' da, aber die sind alle schnell weggegangen. Und Frau Meyer hatte noch ihr eigenes Haus, und jeden Tag sind andere weggegangen. Es gab noch ganz wenige Leute, die ihre Häuser noch hatten und dann wieder zurückgegangen sind. Wir waren die einzigen, die kein Haus mehr hatten. Und konnten nirgendwo hin, und haben seit der 'Kristallnacht', bis meine Eltern ins KZ gegangen sind, bei Levisons gewohnt. Und sie sind dann auch zusammen gegangen."

I.: "Ein ganz anderer Punkt wäre noch die Synagoge, da fehlt uns eigentlich noch sehr viel."

Frau I.: "Da kann ich Ihnen leider wenig erzählen, ich weiß wohl, wo die Synagoge war, ich war öfter da, die war nicht in der Eschstraße, aber dahinter, vielleicht, wo heute das chinesische Restaurant ist, in der Ecke. Die haben immer Gottesdienst gehabt, das war an sich eine religiöse Synagoge, auch auf heutige Zeiten bezogen, wo die Frauen oben gesessen haben und die Männer unten gebetet haben. Ich erinnere mich, am Anfang öfter zu den jüdischen Feiertagen dahin gegangen zu sein, in der 'Kristallnacht' war das natürlich zuende, als die alles auf den Marktplatz gebracht haben, und wir waren da im Haus. Auf dem Platz war Musik und Licht und so weiter, und die SS war draußen am Haus, und wir hatten ganz große Angst, die haben uns auch gedroht, daß sie uns auf den Marktplatz nehmen würden, aber das haben sie nicht getan, aber wir konnten das von den Fenstern doch sehen, wir wußten genau, was los war."

I.: "Wie ist das denn abgelaufen, auf dem Marktplatz?"

Frau I.: "Die haben viel Spaß gehabt, die haben ein Feuer gemacht, und Musik und alles. Eine Kapelle hat gespielt, und die haben alles verbrannt, es war schon dunkel. Das war ein großes 'bonfire', würde man in Amerika sagen, Freudenfeuer. Und wir wußten genau, was das war und hatten solch eine Angst, daß wir gar nicht wußten, was uns passieren würde."

I.: "Standen denn da viele Leute drum herum?"

Frau I.: "Oh ja. Da waren viele Leute, wie ich mich erinnern kann. Aber das war eine ganz ängstliche Situation. Und bei Levisons zu leben, das war natürlich ganz schlimm, man konnte keine Lebensmittel mehr kaufen und ich erinnere mich ganz besonders daran, daß wir keine Heizung hatten, wir hatten keine Kohlen mehr. Und mein Stiefvater hatte einen Bruder, der hatte eine Zigarrenfabrik, und der ist ausgewandert, und ich erinnere mich, wie ich da immer hingegangen bin, mit anderen Leuten, und wir haben diese Holzbretter bekommen, die die gebraucht haben, um Zigarren zu machen, und die haben wir gebraucht für unsere Heizung."

I.: "Wissen Sie, ob das ganze Inventar der Synagoge im Marsch durch die Stadt getragen worden ist?"

Frau I.: "Ja, das ist durch die Stadt getragen worden. Ich habe keine Idee, was sie mit dem Rest von dem Bau gemacht haben. Wir haben uns gar nicht getraut, auf die Straße zu gehen. (...) Wir waren alle zusammen, alle die Leute. Da waren die Leute von der Metzgerei Rosenberg und die Meyers und andere Leute, wir waren alle zusammen, und wir haben das gesehen."

I.: "Das war in der gleichen Nacht, als auch Ihr Haus brannte?"

Frau I.: "Ja. (...) Ich glaube, am nächsten Tag wurden die Männer alle genommen und weggeschickt. Und die sind dann nach Buchenwald hingegangen, und die meisten sind zurückgekommen. Nur der alte Herr Levison und Alfred Levison und mein Stiefvater waren die einzigen, die sie nicht genommen haben. Die ganz Alten haben sie nicht genommen, und die anderen, die fähig waren, haben sie wohl hingeschickt. Und sie sind zurückgekommen, und kamen dann mit ihrer Familie weit weg nach Auschwitz, oder wo. Alfred Levison, der war auch kriegsbeschädigt, aber nicht schlimm, hat Glück gehabt, daß sie ihn hiergelassen hatten. Der hat auf seine Eltern aufgepaßt. Aber der war nicht behindert wie mein Stiefvater."

I.: "Was geschah mit dem Bruder Ihres Stiefvaters, mit Otto Spanier?"

Frau I.: "Der ist mit seiner Frau und Schwiegermutter und Kind irgendwo nach Polen gekommen, wo, weiß ich nicht mehr, und das war das Ende. Und für viele andere Familien auch. In '41 war ich eine kurze Zeit hier in Bünde, da ich immer wartete, bis ich endlich ein Visum bekommen habe, da waren ganz wenige Juden noch hier. Ganz wenige. Jedes Mal, wenn ich zurückkam, gab's noch weniger. Und meine Mutter ist nur gerettet, weil Sie bei dieser alten jüdischen Dame in Bielefeld war."

I: "Mußten Sie auch einen Stern tragen?"

Frau I.: "Das war noch nicht zu meiner Zeit, nicht als ich noch da war. Wir mußten aber alles unterschreiben mit 'Sara' und so. Nein, den Stern habe ich nicht tragen müssen. Das war '41, aber ich war schon im August weg. Da haben sie das noch nicht gemacht. Ich konnte nur einen Koffer mitnehmen und 10 Mark, das war das ganze Vermögen, das ich aus dem Lande mitnehmen konnte, und was man tragen konnte, und wir interessierten uns sicher mehr für Essen als für Kleidung. Denn wir wußten nicht, wie lange wir ohne Mahlzeit sein würden, das war eine ganz magere Zeit, mit 10 Mark, einem Koffer und ein paar Kleidern."

I.: "Wie haben Sie denn damals empfunden, als Sie nach Bünde zurückkamen, und wie empfinden Sie heute?"

Frau I.: "Ich bin bitter. Heute ist es mir natürlich viel leichter, ich habe noch Leute kennen gelernt, und die sind sehr freundlich, und ich habe auch versucht zu vergessen, besonders die jungen Leute, die gar nichts davon wissen, die nur was gelesen haben. Aber die älteren Leute, die alten Bürger, meine Mutter hat mir so viele Geschichten erzählt, und obwohl sie sehr geehrt war in Bünde und jeden Tag spazieren gegangen ist, und wenn ich gekommen bin, bin ich immer hin und zurück, auf der Eschstraße mit ihr spazieren gegangen, und die haben sie alle gegrüßt: 'Guten Tag!' und ich habe immer gesagt: 'Was kannst Du hier machen? Warum tust Du das?' Und sie war mir am Anfang ganz böse, daß ich nichts mit den Leuten zu tun haben wollte. Ich sagte: 'Wie kannst Du das machen? Ich will gar nichts mit denen zu tun haben.' Aber in den letzten 40 Jahren ist es ein bißchen leichter geworden für mich, und jedes Jahr nochmal leichter, und ich habe ganz gute Freunde, aber ganz wenige, die ich mir ausgesucht habe und die immer zu uns gehalten haben. Und meine Mutter erzählte mir Geschichten, und da sind Geschäfte hier, wo ich nie kaufen würde, denn sie hat mir erzählt, was gewesen ist, vor und nach dem Krieg. Sie hat immer gesagt: 'Die haben nur eine saubere Schürze angezogen. Und die wollen das vergessen.' Und auch von diesen Schülerinnen, die ich gesehen habe, die eine ist ganz freundlich mit mir, aber ich erinnere mich genau, wie das war. Die hat auf der Sedanstraße gewohnt, und es war ihr nicht erlaubt, mit mir zu spielen, die war jung, die wußte nicht warum. Aber die Eltern haben es ihr verboten, und ich weiß ganz vieles von ihren Eltern, so, war ich gar nicht so begeistert, daß sie zu meinem Kaffee gekommen ist, aber ich konnte ihr das wirklich nicht übelnehmen."

I.: "Haben sich die Bünder denn nach '45 bei Ihrer Mutter entschuldigt?"

Frau I.: "Nein, die hat immer nur ihre eigenen Freunde gehabt, diese Leute, die immer zu ihr gehalten haben, die sich getraut haben, ihr in der Nacht zu helfen oder so, man kann so was nicht vergessen, das ist nicht möglich. - Ich sowieso nicht. Ich wäre nicht einen Tag hier geblieben, ich würde in '45 versucht haben, sofort wegzugehen und einen neuen Anfang zu machen, aber mit einem Schwerkriegsbeschädigten und alles, was die da erlebt haben, war das nicht so einfach. Besonders, weil man nirgends hinkonnte, ich war jung, ich bin einziges Kind, und ich konnte meinen Eltern nichts bieten, im Anfang. - Aber andere Leute haben's geschafft, nicht! Meine Mutter ist hier geblieben. Meine Erinnerung ist bitter ..."